von Univ. Prof. Dr. Walter Hasibeder und Univ. Prof. Dr. Ewald Wöll
Die fortgeschrittene Demenz ist eine rasch zum Tode führende Erkrankung, die durch fortschreitende Gedächtnisstörungen, zunehmenden Sprachverlust, Verlust der Autonomie und Entwicklung von Harn- und Stuhlinkontinenz gekennzeichnet ist. Im Jahr 2011 war die fortgeschrittene Demenz bereits die sechst häufigste zum Tode führende Erkrankung in den USA.
Der klinische Verlauf der fortgeschrittenen Demenzerkrankung wurde sehr genau in der CASCADE Studie (Choices, Attidudes, and Strategies for Care of Advanced Dementia at the End of Life) untersucht. An der Untersuchung nahmen über 300 Pflegeheimpatienten teil. Die mediane Überlebenszeit der Patienten betrug 1,3 Jahre. Die häufigsten klinisch beobachtbaren Komplikationen beim fortgeschrittenen Demenzerkrankten waren Essprobleme (Schlucken, fehlender Appetit) bei 86% der Patienten, rezidivierende Fieberepisoden (53%) und rezidivierende Lungenentzündungen (41%).
Es ist oft schwierig die Prognose bzw. die verbleibende Lebenszeit eines Demenzkranken richtig einzuschätzen und damit eine möglichst gute Betreuung für den Patienten zu gewährleisten. Invasive Maßnahmen, wie das Legen von PEG-Sonden oder Aufnahmen auf Intensiv- oder Überwachungsstationen haben keinen lebensverlängernden Effekt und beeinträchtigen leider häufig negativ die verbleibende Lebensqualität.
Tabelle 1 zeigt die klinische Einteilung der Schwere der Demenzerkrankung anhand funktioneller Parameter.
Ab dem Stadium 7c muss mit einer durchschnittlichen Überlebenszeit unter einem halben Jahr gerechnet werden, wenn zusätzlich innerhalb des letzten Jahres eine der folgenden Komplikationen aufgetreten ist:
– Aspirationspneumonie
– Pyelonephritis oder eine andere Infektion des oberen Urogenitaltraktes
– Sepsis
– multiple Dekubiti Stadium 3 oder 4
– wiederholte febrile Episoden
– Essprobleme = ungenügende Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bzw. Gewichtsverlust > 10% bei Patienten unter Sondenernährung und/oder Serumalbumin < 2,5g%
Essprobleme stellen eine der häufigsten Komplikationen beim Demenzerkrankten dar. Neben echten Schluckstörungen mit der unmittelbaren Gefahr rezidivierender Aspirationsereignisse, können das ungenügende Schlucken mit Verbleib größerer Speisemengen in den Wangentaschen, das einfache “Vergessen” von Hunger und Durstgefühl aber auch Essprobleme durch ein schlechtes Gebiss Ursachen von Mangelernährung sein.
In diesem Zusammenhang wichtig ist die Aufteilung der täglichen Mahlzeiten in kleinere Portionen, die Beschaffung eines adäquaten Zahnersatzes oder die zahnärztliche Sanierung des vorhandenen, oft schlechten Gebisses. Der fortgeschrittene Demenzerkrankte benötigt meist intensive und geduldige Assistenz beim Essen sowie Zeit um selbst kleine Mahlzeiten vollständig aufzunehmen.
Die Applikation von Kalorienreichen, leicht zu schluckenden Ernährungslösungen kann bei klinischen Zeichen der Magelernährung eine Gewichtszunahmen fördern, ohne jedoch einen Einfluss auf die Funktionalität oder die Überlebenszeit der Patienten zu haben. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2009 zeigt, dass es derzeit keine Evidenz dafür gibt, dass Zwangs-ernährung über eine Magensonde in irgend einer Weise die Überlebenszeit, die Funktionalität, die Gefahr von Infektionen oder das Abheilen von Dekubiti bei dieser Patientengruppe positiv beeinflusst.
Die SPREAD Studie (Study of Pathogen Resistance and Exposure to Antimicrobials in Dementia) verfolgte 362 Pflegeheimpatienten mit fortgeschrittener Demenzerkrankung über einen Zeitraum von 12 Monaten. Bei 2/3 der Patienten wurden pulmonale- oder Infektionen der Harnwege diagnostiziert. 50% der Patienten erkrankten in den letzten beiden Lebenswochen an einer Lungenentzündung. In der SPREAD Studie wurden 75% der vermuteten Infektionen antibiotisch behandelt. Aber weniger als die Hälfte aller Infektionen und nur 19% aller Harnwegsinfektionen erfüllten ausreichend die klinischen Kriterien um eine Antibiotikatherapie zu beginnen.
In zwei prospektiven Untersuchungen wurden zwischen 52% und 66% aller Patienten mit fortgeschrittender Demenzerkrankung Antibiotika innerhalb eines Jahres verschrieben. 42% dieser Patienten erhielten Antibiotika in den letzten 2 Lebenswochen. Aufgrund der hohen Antibiotikaexposition sind viele Pflegeheimpatienten mit fortgeschrittener Demenzerkrankung mit resistenten Keimen kolonialisiert. Diese Kolonialisierung mit Problemkeimen stellt ein wichtiges Keimreservoir für Neuinfektionen auch anderer Patienten und für rezidivierende systemische Infektionen desselben Patienten dar.
Aus diesen Gründen sollte eine Therapie mit Antibiotika nur bei klarem Infektionsfokus und entsprechender klinischer Verschlechterung des Patienten begonnen werden. Ein positiver Keimnachweis im Urin ohne Klinik ist sicher keine Indikation zum Beginn einer Therapie.
Besonders in den letzten Lebenswochen leiden Patienten mit fortgeschrittener Demenz häufig an Atemnot, Agitation und Symptomen durch wiederholte Aspiration. Dieser Umstand weist auf die dringende Notwendigkeit einer fachgerechten palliativen Betreuung hin. Von größter Wichtigkeit im Umgang mit Demenzerkrankten ist die Aufklärung der unmittelbaren Angehörigen über den Verlauf der Erkrankung, Behandlungsoptionen und die Prognose der Patienten. Auf letztere ist ganz besonders bei Angehörigen von fortgeschrittenen Demenzerkrankten einzugehen. Oft sind mehrfache Gespräche notwendig und den Angehörigen ausreichend Information über den zu erwartenden Erkrankungsverlauf und die zu erwartenden Komplikationen der Erkrankung zu geben.
Es ist wichtig den Angehörigen zu vermitteln, dass intensive oder gar invasive Therapieverfahren kaum Einfluss auf das Überleben oder die Lebensqualität des fortgeschrittenen Demenzerkrankten haben. Ganz im Gegenteil derartige Maßnahmen können mit einer Verlängerung des Leidens und einer Verschlechterung der Symptomatik des Demenzerkrankten einhergehen.
In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass Patienten mit eindeutigen, schriftlich festgelegten Therapiezielen und Therapieeinschränkungen durch den behandelnden Arzt meist früher einer palliativen Therapie zugeführt werden und daher in ihrer letzten Lebensphase weniger häufig hospitalisiert werden müssen und weniger häufig invasiven Therapien unterzogen werden.
Behandelnde Ärzte sollten daher frühzeitig gemeinsam mit den Angehörigen folgende Fragestellungen klären:
1) Sinnhaftigkeit einer Reanimation im Falle eines funktionellen Herzkreislaufstillstandes
2) Sinnhaftigkeit einer Spitalsaufnahme im Falle einer raschen Verschlechterung des klinischen Zustandsbildes z.B. im Rahmen einer generalisierten Infektion
3) Sinnhaftigkeit von Ernährungssonden oder einer parenteralen Ernährungstherapie bei Auftreten von Schluckstörungen und klinischen Zeichen der Mangelernährung
4) Frühzeitige Einbindung palliativmedizinisch erfahrener Kollegen in die weitere Behandlungsplanung