von Univ. Prof. Dr. Walter Hasibeder
Derzeit werden in Medien immer wieder Artikel zum Thema Armut und die Folgen für die Gesundheit abgebildet. Meist enthalten diese Artikel wenig Substanz und wirtschaftspolitische Ursachen und Zusammenhänge werden oftmals kaum oder ungenügend diskutiert. In einem mehrteiligen Artikel möchte ich auf die Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheit näher eingehen und anhand von konkreten, historischen Beispielen fatale gesellschaftspolitische Entwicklungen für Gesundheitssysteme verschiedener Länder aufzeigen.
Ich beginne diese Serie mit Russland, Anfang der neunziger Jahre, als russische Politiker unter dem Einfluss der Weltbank und damaliger namhafter Neoliberalisten wie z.B. Milton Friedman der russischen Wirtschaft einen „Schock“-ähnlichen Übergang von kommunistischer Planwirtschaft in eine moderne westliche Marktwirtschaft verordneten.
Mit der von der Weltbank und den Neoliberalisten verordneten Schocktherapie Anfang der 90iger Jahre kam es fast explosiv zum Niedergang der russischen Großindustriestätten mit einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Männern. Das Bruttoinlandprodukt Russlands schrumpfte um ein Drittel die Arbeitslosigkeit stieg nach offiziellen Angaben auf 22% an. Nach Schätzungen lebte ca. ¼ der russischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Als Folge dieser radikalen Veränderungen beobachtete man einen rasanten Anstieg der Männersterblichkeit. Die bereits im Vergleich mit Europäischen Ländern niedrige durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer mit 64 Jahren verringerte sich innerhalb kurzer Zeit um weitere 7 Jahre auf 57 Jahre (=“postkommunistische Mortalitätskrise“).
Im Vergleich mit Männern die in geregelter Lohnarbeit stehen war das Risiko eines Arbeitslosen vorzeitig zu versterben 6-fach erhöht! Offiziellen Todesstatistiken zufolge waren die vorzeitigen Todesfälle auf Alkoholvergiftungen, Selbstmord, Mord oder Tod durch Verletzungsfolgen und Herzinfarkte zurückzuführen. Bereits aus der Weltwirtschaftskrise in den 20-iger Jahren ist bekannt, dass Arbeitslosigkeit zu vermehrter sozialer Isolation, Depression, Selbstmord und Alkoholismus führt. In Russland führte der vermehrte und exzessive Genuss von Industriealkohol, der als billiges Parfüm („Odekolon“ ein Produkt frei von Alkoholsteuer) getarnt vermarktet wurde, zu vermehrter oder verfrühter Entwicklung schwerer Lebererkrankungen, psychischen Erkrankungen und Erkrankungen des Herzkreislaufsystems. Das Risiko für Russen durch den regelmäßigen Genuss von “Fusel” an den Folgen von Herzinfarkten, Leberzirrhose oder psychischen Erkrankungen zu versterben war um das 26-fache höher als ohne den Konsum industriellen Alkohols.
Interessant in diesem Zusammenhang ist der Vergleich Russlands mit einigen seiner Nachbarländer in denen der Übergang zu einer westlichen, liberalen Marktwirtschaft langsamer und in politisch klug geplanten Schritten vor sich ging. Während die Menschen in Russland zunehmend kränker wurden, verzeichnete man in Polen, Weißrussland und in der tschechischen Republik eine Abnahme der Sterblichkeit bzw. Zunahme der Lebenserwartung der Bevölkerung. Somit waren die Auswirkungen auf die Gesundheit in Ländern mit rascher Privatisierung deutlich gravierender als in Ländern mit einem kontrolliertem Übergang in eine freie Marktwirtschaft.
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass jenen Institutionen, die dem Osten den explosionsartigen Übergang von einer wirtschaftlich völlig veralteten Planproduktion in eine moderne industrialisierte Marktwirtschaft verordnet hatten und sich bei den regierenden russischen Politikern schließlich gegen alle Vernunft durchgesetzt hatten, durchaus die Folgen für die Gesundheit der russischen Bevölkerung bewusst gewesen sind. So wurde z.B. von Vertretern der Weltbank vermerkt, dass: „bevor langfristige Verbesserungen des Gesundheitsniveaus eintreten ist davon auszugehen, dass die Umstellung auf Marktwirtschaft und eine demokratische Regierungsform kurzfristig zu Verschlechterungen führt“.
Die Folgen der wirtschaftliche Schocktherapie Anfang der neunziger Jahre wirken bis in die heutige Zeit, also bereits 25 Jahre später, weiter. Durch Alkoholismus, Fehlernährung und ein unterfinanziertes und insuffizientes Gesundheitssystem breiteten sich bestimmte Infektionskrankheiten wie z.B. die Tuberkulose in Russland sprunghaft aus. Mangelhafte und fehlerhafte Behandlung dieser oft tödlichen Infektionserkrankung förderte die Entwicklung hochresistenter Tuberkelbakterien, die nicht nur zu einer zunehmenden Ausbreitung der Tuberkulose in den ehemaligen Ostblockländern führte, sondern auch eine zunehmende Bedrohung für Europa darstellt.
Literatur:
1) Stuckler D, Basu S. Sparprogramme töten – die Ökonomisierung der Wirtschaft. Wagenbach Verlag; deutsche Ausgabe 2014
2) McKee M. Alcohol in Russia. Alcohol and Alcoholism 1999; 6:824
3) Stuckler D, King L, McKee M. Mass Privatisation and the Postcommunist Mortality Crisis. The Lancet 2000;373: 399