von Prim. Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder
Sowohl die Ärztekammer als auch das Sozialministerium und die Gewerkschaft öffentlicher Dienst verkünden laut, dass unsere Arbeitszeiten EU-konform werden müssen. Mit anderen Worten: Die maximal erlaubte Wochenarbeitszeit für Ärzte und Ärztinnen soll auf 48 Stunden reduziert werden. Der Laie ist begeistert – denn wer möchte schon von einem Arzt operiert werden, der bereits 15 Stunden Dienst hinter sich hat. Die neuen Regelungen sollen für alle Ärzte und Ärztinnen unabhängig von ihrem Ausbildungsstand gelten. Gleichzeitig nehmen die geforderten theoretischen und praktischen Inhalte verschiedener fachspezifischer Ausbildungscurricula laufend zu.
Als praktisch tätige Mediziner können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems letztlich von Laien und medizinischen Schreibtischtätern vorangetrieben wird.
Erlauben Sie mir ein praktisches Beispiel: Nehmen wir einen chirurgischen Assistenten, der im Rahmen seiner Ausbildung z.B. zehn Magenresektionen unter fachärztlicher Aufsicht operiert haben sollte, bevor er einen derartigen Eingriff selbstständig und eigenverantwortlich durchführt. Lassen wir dabei einmal außer Acht, dass mit dieser Eingriffszahl ein überwiegender Anteil der Auszubildenden definitiv noch keine ausreichende Routine erwirbt, um allen unerwarteten anatomischen Verhältnissen dieser Operation gerecht zu werden.
Die tägliche Wahrscheinlichkeit einer Magenoperation beträgt statistisch gesehen 2,7 Prozent. Eine große chirurgische Abteilung einer Ausbildungsklinik beschäftigt ca. 15 Assistenzärztinnen und –ärzte, von denen jede(r), unter der Voraussetzung einer 48-Stunden-Woche – und nach Abzug von Urlaubs-, Zeitausgleich- und Fortbildungstagen – etwa 24 % der Jahresarbeitszeit tatsächlich klinisch tätig ist. Dabei negieren wir auch, dass Ärzte und Ärztinnen allein bis zu einem Drittel ihrer Arbeitszeit mit der gesetzlich geforderten Dokumentation beschäftigt sind.
Ein Assistent dieser Klinik wird also im günstigsten Fall alle eimneinhalb Jahre eine Magenoperation durchführen. Nachdem diese Operationen erst in einem fortgeschrittenen Ausbildungsstadium, etwa ab dem 3. Ausbildungsjahr gelehrt werden, wird der bzw. die Ausbildungsassistent(in) das Operations-Soll frühestens nach ca. 18 Jahren erfüllt haben. Ganz ähnlich wird es sich mit anderen großen und daher selteneren Eingriffen verhalten, sodass er/sie sich wahrscheinlich nahe dem Pensionsalter endlich als fachlich versierte(r) Chirurg(in) fühlen kann. Aus dieser Tatsachen resultieren eine mangelnde Sicherheit im operativen Bereich, eine viel zu lange Abhängigkeit von erfahreneren Kollegen und logischerweise ein persönliches Defizitdenken.
Leider befinden wir uns bereits am Beginn dieser aus medizinischer Sicht desaströsen Entwicklung! Übrigens können derart einfache statistische Berechnungen – krankheitsspezifisch oder auf manuelle Fertigkeiten bezogen – auch für alle anderen medizinischen Fachdisziplinen durchgeführt werden. In den großen Kliniken unseres Landes werden komplexe und dringliche chirurgische Eingriffe außerhalb der Kernarbeitszeiten bereits “in Raten”, also “mehrzeitig”, durchgeführt, da im Dienstrad oft Ärzte und Ärztinnen tätig sind, die eine endgültige chirurgische Versorgung, z.B. eines septischen Bauches, nicht mehr adäquat gewährleisten können!
Dass unter diesen Voraussetzungen von politischer Seite von einer Verbesserung der Versorgungsqualität gesprochen wird, erscheint geradezu lächerlich. In anderen EU-Ländern wird das Arbeitszeitgesetz zwar vordergründig bereits eingehalten, aber junge Kollegen und Kolleginnen, die beruflich Kariere machen wollen, müssen die dafür notwendige Mehrarbeit in ihrer Freizeit – und d.h. selbstverständlich ohne entsprechende Überstundendokumentation – erledigen.
Als zusätzliches Defizit erkennen wir den zunehmenden Verlust der Kontinuität in der Behandlung zukünftiger Patienten. Vor allem bei längeren Spitalsaufenthalten aufgrund komplexer Erkrankungen werden die verantwortlichen Ärzte/Ärztinnen nahezu täglich wechseln. Die genaue Kenntnis des durchgehenden Erkrankungsverlaufes, der Dynamik der diagnostischen Abarbeitung von Diagnosen und Differentialdiagnosen* und der Veränderungen der Symptome unter der gerade eingeschlagen Therapie sind jedoch essentieller Bestandteil der ärztlichen Ausbildung und führen zur Entwicklung einer oft “unbewussten” Patientendatei in den Köpfen erfahrener Kliniker. Dieses gemeinhin als „klinische Erfahrung“ bezeichnete ärztliche Wissen ist unverzichtbarer Bestandteil der „ärztlichen Kunst”. Zusätzlich führt der Verlust der Versorgungskontinuität nach unserer Meinung, nicht nur zu medizinischer Qualitätseinbußen, sondern auch zu einer zunehmenden Frustration bei Patienten und Patientinnen („Ich sehe nie den gleichen Arzt!“).
Auch der zunehmend (hausgemachte!) Ärztemangel durch dezimierte Studienplätzen wird von der Politik konsequent negiert – und das, obwohl es genügend am Arztberuf interessierte Jugendliche in unserem Land gäbe. Heuer haben sich sage und schreibe 12.000 Maturanten und Maturantinnen dem Medizinaufnahmetest unterzogen, aber nur knapp über 1000 werden einen Studienplatz bekommen. In Kombination mit dem hoch gepriesenen Arbeitszeitgesetz wird der Ärztemangel zwangsläufig zu einer Reduktion des medizinischen Leistungsangebots in unserem Land führen. Wer dann die Konsequenzen zu tragen hat, ist leicht auszumalen.
Wir wünschen uns nicht die “guten alten Zeiten” zurück, in denen mancher von uns auch mehrere Tage und Nächte arbeitend im Krankenhaus verbracht hat. Für die medizinische Entwicklung wäre aber ein gestaffeltes Arbeitszeitgesetz, das den Ausbildungsstand unserer jungen Kollegen mit berücksichtigt, wesentlich geeigneter, um auch weiterhin eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung bei gleichzeitig zumutbarer Gesamtlebensarbeitszeit zu gewährleisten.
Persönlich möchten wir im Notfall lieber von einem routinierten und erfahrenen, aber müden Kliniker als vom ausgeschlafenen, jedoch unerfahrenen „Mediziner der Zukunft“ behandelt zu werden!
* als DD bezeichnet man Erkrankungen mit ähnlicher bzw. nahezu identischer Symptomatik, die vom Arzt neben der eigentlichen Verdachtsdiagnose ebenfalls als mögliche Ursachen der Patientenbeschwerden in Betracht gezogen werden müssen.